Im Home Schooling funktioniert zwar der Wissenserwerb weiterhin ganz gut. Die mindestens ebenso wichtige Funktionen von Schule bleiben jedoch auf der Strecke, findet Peter Maier, Pädagoge mit 40-jähriger Berufserfahrung: Die Herzensbildung wie auch gerade für Pubertierende das Ausloten des persönlichen Ranges in der Gruppe der Gleichaltrigen. Aber man kann gegensteuern.
Die eigentliche Pädagogik bleibt auf der Strecke
Kinder nehmen Fachwissen und Kompetenzen auf, wenn die Beziehung zwischen ihnen und der Lehrperson stimmt, die dieses Wissen vermittelt. Der Slogan „Erziehung durch Beziehung“ hat gerade jetzt wieder eine unerwartete Bedeutung erlangt. Denn in diesem Prinzip schwingt neben der Wissensaufnahme durch die Schüler eine grundsätzliche Orientierung am Lehrer mit: Ist er mir sympathisch? Kann er mich wahrnehmen, kann er meine Fähigkeiten, ja überhaupt mich als Person sehen? Fühle ich mich in der Klasse, die er leitet, wohl und herrscht ein gutes Unterrichtsklima?
Neben diesen lernaktiven und atmosphärischen Elementen im Unterricht erfolgen subtil und unterschwellig durch die Lehrkraft bei den Schülern auch laufend Impulse und Anstöße zur Persönlichkeitsentwicklung, Charakterbildung, Werteerziehung und zur Ausformung eines eigenen Weltbildes. Dieser Bereich des Unterrichtsgeschehens ist enorm wichtig und gar nicht hoch genug einzuschätzen. Dies geschieht im „normalen“ Unterricht.
Doch leider gerät diese zweite Ebene der Bildung im Schatten der Corona-Pandemie, in der es vor allem um Strukturfragen geht, im Moment völlig ins Hintertreffen. Man will von Seiten der (Bildungs-)Politik die Schulen um jeden Preis am Laufen halten: mit Distanz- und Wechselunterricht, mit Home Schooling und Videokonferenzen, basierend auf digitaler Technik, mit Hygienevorschriften und genügend Abstand in der Schule, alles abhängig vom momentanen Inzidienzwert.
Das ist verständlich und nachvollziehbar, aber wo kann die eigentliche Pädagogik noch stattfinden, die auf Bindung zum Lehrer beruht und auf einer Herzenspädagogik von Seiten der Lehrkraft aufbauen muss? Wie also können LehrerInnen unter den Corona-bedingten „Schulumständen“ noch in einer guten Beziehung zu unseren Schülern bleiben?
Blockierter Pubertätsprozess bei SchülerInnen
An dieser Stelle will ich zunächst von einer persönlichen Erfahrung berichten: Im Schuljahr 2018-2019 hatte ich eine 8. Klasse, die von den 16 Jungen dominiert war. Die 11 Mädchen waren eher Beobachterinnen und Statisten dieses Jungen-in-der-Puberät-Schauspiels. Ein normaler Unterricht war nur mit Mühe möglich, da die Jungen in einer dauernden Reiberei um die Hackordnung in der Klasse waren. Mehrere Gruppen waren im ständigen „Kampf um die Klassenherrschaft“. Das war für jede Lehrkraft anstrengend, weil es den Jungen nur am Rande um Wissensaufnahme und um gute Noten ging.
Viel wichtiger war ihnen, was nach und außerhalb des Unterrichts stattfand: Fast alle waren mindestens drei Nachmittage die Woche auf dem Fußballplatz zu finden, um sich auszutoben und um ihren z. T. heftig wirkenden Pubertäts-Energien ein Ventil geben zu können. Auch in den beiden Vormittagspausen waren alle Jungs der Klasse auf dem Schul-Sportplatz, um „es“ jeden Tag neu untereinander „auszukicken“. Darum ging es diesen Jungs also und nach jeder solcher Pause waren sie zumindest vorübergehend für die nächsten zwei Unterrichtsstunden zu haben. Ich frage mich jetzt aber: Wo sollen diese Pubertäts-Energien und Aggressionen jedoch in Zeiten von Corona hin, wenn das Kämpfen und Dampf-Ablassen im Sport gar nicht möglich ist, weil Trainingseinheiten und Spiele in den Fußballvereinen und im Sportunterricht gar nicht stattfinden dürfen?
Wenn die sozialen Kontakte nur über digitale Medien möglich sind, der physische Kontakt in der Peergroup aber fehlt? Wenn Jugendliche nicht zum gemeinsamen „Chillen“ und Abhängen außerhalb des Elternhauses und des Einflussbereichs der „Alten“ zusammen kommen und dabei über Gott und die Welt, über Eltern und Lehrer auch mal gemeinsam lästern können? Dies alles gehört zu einem natürlichen Pubertätsprozess, zur Persönlichkeits- und Charakterbildung.
Ärzte am Klinikum Harlaching in München aufgrund der Corona-bedingten Zunahme psychischer Störungen über junge Erwachsene von 18 bis 20 Jahren in der Corona-Krise sagen, hat für Jugendliche in der Pubertät sogar noch mehr Gültigkeit: „Junge Erwachsene brauchen aber eine Peergroup als Lernmodell, als haltgebende Gemeinschaft. Sie haben noch keine gefestigte Identität und kein stabiles Weltbild. Das gemeinsame Feiern und Abhängen ist wichtig für die Entwicklung. Wenn das nicht geht, führt das gerade in unsicheren Zeiten zu noch mehr Unsicherheit… Die jungen Menschen sollten das Verständnis der Gemeinschaft haben, dass es für sie ein notwendiges Bedürfnis ist, sich zu sehen.“[i]
Oft ist es so, dass die selbst Corona-gestressten Eltern sich zu viel um ihre Kinder – oft ins Homeschooling verbannt – kümmern oder ihnen zu Hause zu viel reinreden und damit ungewollt eine übermäßige Abhängigkeit bei ihnen fördern und eine natürliche Abnabelung verhindern. Die Aggressionen nehmen zu: „Häufig steckt bei jungen Leuten Selbsthass, Wut gegen sich selber oder auch Wut gegen die Welt dahinter.“[ii] Ein auffälliger Rückzug etwa in sozialen Medien, zunehmende Ängstlichkeit, Besorgtheit, ein Hang zum Grübeln und Schlafstörungen sind häufig dann die Folge.
Wächst jetzt eine verlorene „Generation Corona“ heran?
Ich stimme den Ärzten des Harlachinger Krankenhauses prinzipiell zu, dass solch eine Prognose nach einem guten Jahr Corona-Einschränkungen an den Schulen (Maskenpflicht, körperlicher Abstand, Hygienevorschriften), Home Schooling/Distanzunterricht, der teilweise Überforderung mit den neuen digitalen unterrichtlichen Anforderungen sowie mit Lockdown-Perioden usw. noch zu früh ist: „Ob es zu spezifischen Veränderungen kommt, ist hoch spekulativ. Aber die jungen Menschen verdienen Anerkennung. Bevor man sie als eine ‘verlorene Generation’ abstempelt, sollte man abwarten, welche Resilienzfaktoren sie mitbringt…“[iii]
Als erfahrener Pädagoge bin ich jedoch der Auffassung, dass der natürliche Initiations-Prozess, d.h. die Entwicklung von der Kindheit ins Jugendalter und von der Adoleszenz ins Erwachsensein während der gymnasialen Schulzeit doch eine merkliche Schlagseite oder zumindest eine deutliche Verzögerung erfahren kann.
Denn der regelmäßige Kontakt mit Gleichgesinnten außerhalb des Elternhauses ist entscheidend für diese beiden Entwicklungsprozesse, die eine schrittweise Ablösung von den Eltern und zugleich den organischen Aufbau eines eigenen Bekannten- und Freundeskreises voraussetzen.
Wie gegensteuern?
Niemand hat in der Pandemie „die“ Lösungen parat oder hat dafür schon „das Ei des Kolumbus“ gefunden. Hier ein paar Impulse und Anregungen geben, wie Jugendliche besser durch die gegenwärtige Corona-Situation kommen könnten:
- individuellen Sport treiben, um den „Pubertäts-Dampf“ körperlich rauszulassen und Aggressionen abzubauen, auch wenn Mannschaftskämpfe zur Zeit nicht möglich sind;
- in den Wald gehen, um sich mit der Natur zu verbinden und einen körperlichen Ausgleich zu all den Videokonferenzen vor dem Computer zu bekommen;
- zu zweit oder dritt im Sicherheitsabstand spazieren gehen, um den natürlichen Kontakt zu Gleichaltrigen nicht zu verlieren;
- weiterhin Einzel- und Gruppenkontakte über Facebook oder Whats-App pflegen, um sozial nicht zu vereinsamen
- mit den Eltern und Geschwistern Gespräche gerade auch über die Corona-Krise führen und Zeit füreinander in der Familie haben, um als Jugendlicher die gegenwärtige Situation besser bewältigen zu können;
- sich Zeit nehmen, um Bücher zu lesen und sich darüber in der Familie und im Freundeskreis auszutauschen, um auch auf diese Weise die Pandemie-Situation positiv zu nutzen;
- das eigene Bewusstsein für die alltäglichen Dinge, für die Natur, die Jahreszeiten usw. schärfen und Dankbarkeit dafür entwickeln;
- Zeit für sich und seine innere Mitte haben und diese gerade in Krisenzeiten als Ort der Zuflucht begreifen und schätzen lernen;
- neue Ideen und Visionen für die Zeit nach Ende der Pandemie entwickeln, um so die Resilienzfähigkeit zu stärken und einer depressiven Verstimmung entgegen zu wirken
www.initiation-erwachsenwerden.de
[i]Süddeutsche Zeitung Nr. 85 vom 14.4.2021, S. 36
[ii]ebd.
[iii]ebd.
Peter Maier, Gymnasiallehrer für Physik und Religion, Supervisor, Autor
*Hinweis: Mit „Schüler“ sind natürlich immer Schülerinnen und Schüler gemeint, mit „Lehrer“ Lehrerinnen und Lehrer und mit „Kollegen“ Kolleginnen und Kollegen.
Bücher von Peter Maier:
(1) „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“
(2) „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen.“
(3) „Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“.
www.initiation-erwachsenwerden.de
Peter Maier: „Heilung – Plädoyer für eine integrative Medizin“ (Softcover), ISBN: 978-3-752953-99-2. (Preis: 18,99 €, Epubli Berlin, 1. Auflage 2020); eBook: ISBN: 978-3-752952-75-9. (Preis: 12,99 €, Epubli Berlin, Erscheinungsdatum: 2020)
Peter Maier: „Heilung – Initiation ins Göttliche“ (Softcover) ISBN 978-3-95645-313-7 (18,99 €, Epubli Berlin, 2. Auflage 2016), eBook: ISBN: 978-3-752956-91-7 (11,99 €, Epubli Berlin, Erscheinungsdatum: 27.05. 2020)
Nähere Infos und Buch-Bezug: www.alternative-heilungswege.de