Die Mondfinsternis in der Stadt am frühen Morgen bestaunen Wolfgang Nell und seine Söhne. Und wundern sich, dass viele PassantInnen um sie herum den Blick statt nach oben nach unten auf ihr Handy richten. Betrachten diese vielleicht gerade Bilder vom wundervollen Mond auf ihrem Handy-Display?
In eisiger Kälte stehen wir draußen. Durch die Häuserschluchten unserer Wohnanlage hindurch haben wir einen sensationellen Blick auf den rot gefärbten Mond. Der frühe Morgen zeigt uns inmitten eines sternenklaren Himmels ein seltenes Naturspektakel. Meine beiden älteren Söhne haben den morgendlichen Ausgang schon seit längerer Zeit geplant. Die Wettervorhersage für ein wolkenfreies Firmament hat gewackelt. Letztendlich haben die Augen meiner Söhne beim Anblick des wunderschönen Mondes wie die Sterne am Himmel gefunkelt. Sie wissen: “Das sehen wir erst wieder 2028!”
“Ist euch aufgefallen, dass niemand zum Mond hinaufschaut?“, stellt einer meiner Söhne kritisch fest. Während wir im Freien als kleines Grüppchen fasziniert unsere Köpfe nach oben gerichtet hatten, sind unzählige Menschen an uns vorbeigegangen. Vielleicht haben sie schon zuvor den Mond betrachtet. Einige haben auf ihre Smartphones geschaut. Ehrlich gesagt: Alle!
Natürlich war das ein Zufall, doch meine Kinder hat das sehr beeindruckt. Dort dieses seltene Naturspektakel, hier zur Arbeit wandelnde Menschen, die ihre Welt möglicherweise vorrangig aus dem WWW generieren. “Vielleicht schauen sie sich die Fotos von der Mondfinsternis auf ihren Smartphones an!”, schmunzelt mein älterer Sohn.
Ist das ein abwegiger Gedanke? Die Wirklichkeiten zuerst digitalisieren, um sie dann erfassen
zu können? Einen digitalen Filter zwischen Realität und Wahrnehmung dazwischenstellen? Ergeben sich da nicht absurde Möglichkeiten der Manipulation für diejenigen, die diesen Zwischenraum beherrschen?
Wir hätten den Mond auf unseren Smartphones beim Frühstück betrachten können. Es wurden ja fantastische Bilder uns Netz gestellt. Das Rot des Mondes strahlt auf dem kleinen Bildschirm direkt über die Türme der Pöstlingbergkirche.
Das Rot unseres realen Mondes in eisiger Kälte war durch den Lichtsmog der Stadt bei weitem nicht so strahlend. Doch wir haben zudem auch den Himmel und die Sterne betrachtet, uns aneinandergedrückt und ab und zu herzhaft und laut gegähnt.
Der wirkliche Unterschied zu den vorbeigehenden Menschen lag aber in diesen wenigen Minuten an unserer Körperhaltung: Wir hatten unsere Köpfe nach oben gerichtet und nicht nach unten. So viele Menschen üben ihren Blick nach unten auf das matte Licht einer kleinen Fläche (14 mal 8 Zentimeter) obwohl am Himmel ein Naturerlebnis besonderer Art leuchtet,… sogar inmitten unserer Stadt.
Es wird höchste Zeit, die Köpfe ab und zu für einen Weitblick (zum Beispiel zum Mond) zu heben, um über das Besondere und Wunderbare unserer Wirklichkeit zu staunen, sonst wird unsere Welt immer kleiner und kleiner und kleiner und …
Wolfgang Nell (47), akademischer Entwickler Sozialer Verantwortung, schreibt diesen Blog als Vater von drei Buben. Er kümmert sich zurzeit hauptsächlich um die Kinder im Alter von 6, 9 und 12 Jahren, während seine Frau Vollzeit als Ärztin arbeitet. Für Grünschnabel reflektiert er regelmäßig Erlebnisse aus seiner Familienwelt mit dem Lauf der „großen“ Welt, mit politischen und alltäglichen Geschehnissen.