Warum artgerechte Tierhaltung extra als Bio ausgewiesen wird und nicht einfach normal ist, darüber wundert sich Wolfgang Nells Sohn im neuesten Papa-Blog.
“Warum steht eigentlich Bio auf unserer Milchpackung?”, fragt einer meiner Söhne. Sehr schnell finde ich eine Antwort: “Weil die Milch von Kühen aus einem Landwirtschaftsbetrieb kommt, in dem auf gewisse Kriterien geachtet wird…”. Ich erkläre ihm, dass Bio-Kühe mehr auf der Weide und nicht immer im Stall stehen müssen. Sie haben mehr Platz im Stall und kriegen Futter, das keine Spritzmittel enthält, also keine Gifte oder mit künstlichem Dünger versehen ist. Die Kälber dürfen länger bei den Mutterkühen bleiben.
“Das versteh ich nicht. Ist Bio nicht eher normal? Warum muss dann Bio draufstehen?”, höre ich ihn nachgrübeln. “Ich meine, wäre es nicht logischer, wenn auf den Milchpackerln anstatt Bio zum Beispiel Normal steht oder eben gar nichts? Bio ist doch normal, oder?”
Diese Einwände begleiten mich schon seit längerer Zeit. Meine Söhne hinterfragen manchmal zufällig Erscheinungen unserer Gegenwart auf eine besondere Art, die ich methodisch als Perspektivenwechsel bezeichnen würde: Zur Betrachtung eines Sachverhaltes wird bewusst ein anderer Blickwinkel gewählt. Aus dieser neuen Perspektive heraus erklärt sich der Begriff Normalität um einiges vielfältiger und fragwürdiger.
Was ist schon normal? Natürlich hat mein Sohn recht. Die Bezeichnung und Kennzeichnung Bio ist eigentlich absolut unnötig. Sie bezeichnet ja bloß einen gewünschten Normalzustand. Anbebracht sind Produkthinweise wie “Extra chemisch aufgeblasene Radieschen!” “Karotten mit dem Extra-Stickstoff in den Fasern!” “Frischgrasfreie Milch!” “Schweinefleisch aus industrieller Massenschlachtung!”
Bio wäre aus diesem Blickwinkel betrachtet ein notwendiger Begriff, um eine normale Landwirtschaft im Gegensatz zu einer besonderen Lebensmittelproduktion zu bezeichnen.
Wir lieben Bioprodukte. Gute Freunde von uns haben einen landwirtschaftlichen Betrieb. Sie zaubern das beste Bio-Joghurt dieser Erde. Sie arbeiten schwer und aufwendig für ihre Produkte. Ihren Tieren geht es gut. Sie leben auf der Weide. Ausgebeutete Milchkühe geben keine Qualitätsmilch. Ich verstehe nicht, warum diese engagierte Hersteller von herrlichen Milchprodukten BIO auf ihre Milchflaschen kleben müssen.
Massentierhaltung ist nicht normal. Die Humusschicht radikal auszulaugen ist nicht normal. Lebendtiertransporte über hunderte Kilometer in sommerlicher Hitze sind nicht normal. Auf Teufel komm raus Pestizide versprühen ist nicht normal. Hormone spritzen ist nicht normal. Den endgültigen Preis dieser momentan günstigen Lebensmittel werden wir in Zukunft mit vielen ökologischen Folgekosten zu zahlen haben.
Darum möchte ich zukünftig nicht mehr Bio lesen müssen. Ich wünsche mir, zur Bio-Milch einfach Milch sagen zu dürfen und zu den Bio-Radieschen bloß Radieschen,…
Stickstoff-Karotten, Wein aus insektenbefreitem Weinbau, Raubbau-Kohlrabi, Schokolade, für die Kinder arbeiten mussten… das wäre aus diesem Perspektivenwechsel heraus die logische Etikettierung vieler Produkte für uns KonsumentInnen, um endlich Bio das sein zu lassen, was es im Grunde genommen schon immer ist: Normal und selbst-verständlich!
Wolfgang Nell (47), akademischer Entwickler Sozialer Verantwortung, schreibt diesen Blog als Vater von drei Buben. Er kümmert sich zurzeit hauptsächlich um die Kinder im Alter von 6, 9 und 12 Jahren, während seine Frau Vollzeit als Ärztin arbeitet. Für Grünschnabel reflektiert er regelmäßig Erlebnisse aus seiner Familienwelt mit dem Lauf der „großen“ Welt, mit politischen und alltäglichen Geschehnissen.