Über die Überwindung, die es nicht nur Kindern, sondern auch ihren Eltern oft kostet, den Sprung ins Ungewisse zu wagen, schreibt Wolfgang Nell in seinem Papa-Blog.
Bis zum letzten Tag haben wir das städtische Freibad genützt. Vor allem der Sprungturm wurde zur begehrten Pilgerstätte meiner beiden älteren Söhne. Religionswissenschaftllich ließe sich der von diesen Sprungtürmen ausgehende Zauber als religiöse Erfahrung des Erschreckens und der Faszination (tremendum et fascinosum) beschreiben.
Vielleicht ist dieser Vergleich viel zu gewagt, doch wer ungeübt im Turmspringen auf der Sprungplattform seine Zehen über die Kante schiebt und vor sich in einen tiefen Abgrund schielt, wird sich der oben genannten Erfahrungskategorien nicht entziehen können.
Ja, wir haben im Sommer Triumphe gefeiert. Der Fünf-Meter-Sprungturm wurde souverän bezwungen und die Pläne für den Sieben-Meter-Sprung werden emsig für die Schwimmsaison 2019 geschmiedet.
Mai 2018: “Papa, traust du dich eigentlich, vom Zehn-Meter-Turm zu springen? Ob ich mich traue, von dieser Höhe zu springen? Welch banale Frage aus dem Mund meines
siebenjährigen Kunstspringers. Ich: “…, natürlich nicht!”
Mir sind psychologische Grenzen gesetzt, die aus der Vorstellung eines auf der Wasseroberfläche
heftig einschlagenden Körpers genährt werden. Ich ernte mit dem Eingeständnis väterlicher Feigheit/Vorsicht ein leichtes Rollen der Augen und ein kaum hörbar auszumachendes:”Aha!”
Ich rechtfertige mich damit, allerlei Gründe und Ursachen für die Sprungverweigerung aufzuzählen – doch letztendlich dringt ein Raunen hin zum Bruder: “Er traut sich nicht!”
Am 17. Juni des Jahres 2018 habe ich einen Sprung vom Drei-Meter-Turm gewagt: Weg-gesprungen,
auf-geprallt, ab-getaucht! Beim Einschlag, anders lässt sich bei mir das Aufklatschen einer nicht ganz so zarten Masse auf das Wasser nicht ausdrücken, hat es ganz ordentlich gespritzt.
Vom Zehn-Meter-Turm werde ich nicht springen. Ich werde mich niemals einer Gefahr aussetzen, um mich vor meinen Söhnen beweisen zu müssen. Ich habe mich von ihnen ermutigen lassen, dass selbst ich einen Drei-Meter-Sprung schaffen kann. Ich habe ihnen aber auch erklärt, dass mich ihr Augenrollen geärgert und verletzt hat.
Wie oft habe ich sie schon, ganz bildlich gesprochen, zum Springen ermutigt. Beim Schulanfang, vor einer Operation, beim ersten Vorspielnachmittag auf ihren Instrumenten.
Jedes Mal habe ich in ihren Augen den Zweifel, die Angst, aber auch die Neugierde aufblitzen sehen, sich dieser neuen Aufgabe zu stellen. Ach, wie oft habe ich mich zurückgehalten, um nicht entmutigend zu rufen: “Ach, stell dich nicht so an… so schwer ist das doch nicht!”
Natürlich ist jedes erste Mal unendlich schwer. Es ist auch unendlich schwer, den richtigen Zeitpunkt für
den Absprung zu wählen, um in Neues einzutauchen.
Liebe Söhne, mit euch wage ich es, mich immer wieder neuen Aufgaben zu stellen. Es ist für mich nicht einfach, für einige Augenblicke den Boden unter meinen Füßen zu verlieren. Darum danke ich euch umso mehr, dass ihr immer wieder darin meine weisen Lehrmeister seid, mich nach jeden Sprung mit euren strahlenden und lachenden Gesichtern am Beckenrand zu empfangen.
Vielleicht steige ich nächstes Jahr mit euch ein paar Sprossen höher auf den Sprungturm,… wir werden sehen.
Wolfgang Nell (45), akademischer Entwickler Sozialer Verantwortung, schreibt diesen Blog als Vater von drei Buben. Er kümmert sich zurzeit hauptsächlich um die Kinder im Alter von 4, 7 und 10 Jahren, während seine Frau Vollzeit als Ärztin arbeitet. Für Grünschnabel reflektiert er regelmäßig Erlebnisse aus seiner Familienwelt mit dem Lauf der „großen“ Welt, mit politischen und alltäglichen Geschehnissen.