Die gebürtige Steirerin Andrea Hemmelmayr ist diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester und leitet seit 2014 als ehrenamtliche Präsidentin ELACTA, den europäischen Dachverband der IBCLC zertifizierten Stillberaterinnen und -berater. Der Verein mit Sitz in Pfaffstätten will unter anderem die Entwicklung dieses jungen Berufsstandes fördern aber auch die Qualität der Ausbildung und Praxis der Stillberatung in Europa verbessern.
Grünschnabel: Was bedeutet IBCLC?
Hemmelmayr: “International Board Certified Lactation Consultant. Das ist der einzige international zertifizierte Titel für Still- und Laktationsberatung.”
Grünschnabel: Worin unterscheidet sich eine gewöhnliche Stillberaterin von einer IBCLC zertifizierten Beraterin?
Hemmelmayr: “Gewöhnliche Stillberaterinnen geben eher mentale Unterstützung und eigene Erfahrungen weiter, haben aber oft kein medizinisches Fachwissen.
Frauen und Männer, die sich für die berufsbegleitende IBCLC-Ausbildung entscheiden, müssen einen medizinischen Grundberuf haben. Also bereits Hebamme, Arzt/Ärztin oder Logopäde/Logopädin sein. Sonst dürfen sie diese Ausbildung gar nicht machen. Für die Ausbildung ist aber nicht unser Verband zuständig, sondern unser Partner EISL – das Europäische Institut für Still- und Laktationsberaterinnen.”
Grünschnabel: Wer sind ihre Mitglieder?
Hemmelmayr: “Das sind die Mitgliedsverbände der einzelnen Länder. In Österreich ist das der VSLÖ, in Deutschland der BDL.”
Grünschnabel: Und wie viele Menschen arbeiten bei ELACTA?
Hemmelmayr: “Unser Vorstand besteht aus zwei Holländerinnen, einer Finnin, einer Französin, einer Slowenin, einer Kroatin und mir. Wir arbeiten alle ehrenamtlich.”
Grünschnabel: Warum ist der Beruf der Still- und Laktationsberaterin überhaupt notwendig geworden? Vor 50 Jahren hat es ihn doch auch nicht gegeben, oder?
Hemmelmayr: “Ja, das stimmt. Diesen Beruf gibt es erst seit rund 25 Jahren. Er ist deswegen entstanden, weil da ein großes Loch war. In vielen Kulturen – auch bei uns – haben meist die Mütter oder Großmütter diese Rolle übernommen. Oft auch die Hebammen.”
Grünschnabel: Wodurch ist dieses Loch entstanden?
Hemmelmayr: “Dafür gibt es viele Gründe, weil die Stillfreundlichkeit einer Gesellschaft von vielen gesellschaftlichen Aspekten abhängig ist. Von Vorbildern, religiösen Überzeugungen, der industriellen Revolution, der Rolle der Frau und ihren Unabhängigkeitsbestrebungen, um nur einige zu nennen.
Eine sehr, sehr große Rolle spielten im 20. Jahrhundert die industrielle Säuglingsnahrungsindustrie und die Werbung, die dafür gemacht wurde. Sie hat zum Teil mit falschen Informationen gearbeitet hat und tut dies leider immer noch. Aber auch die Einmischung des medizinischen Systems hat dafür gesorgt, dass das Stillen bei uns eine Zeit lang nicht mehr funktioniert hat. In den 70er- und 80er-Jahren zum Beispiel haben Frauen kaum mehr gestillt, weil Ärzte und Krankenhäuser gesagt haben, dass Muttermilch schädlich sei.
Zum Teil wurde nach dem zweiten Weltkrieg aber auch aus dem Bedürfnis heraus nicht mehr gestillt, um sich gegen den Stilltrend im zweiten Weltkrieg abzugrenzen. Da wurde nämlich sehr viel gestillt.”
Grünschnabel: Wo wird am meisten gestillt – wo am wenigsten?
Hemmelmayr: “In Bayern und Norddeutschland zum Beispiel gibt es signifikante Unterschiede was die Stillhäufigkeit betrifft. Die Norddeutschen stillen mehr als die Bayern.”
Grünschnabel: Und warum?
Hemmelmayr: “Weil Bayern katholisch ist. In vielen katholischen Gegenden hat das Stillen einen ganz schlechten Ruf gehabt, weil es eine natürliche Verhütungsmethode ist. Ganz schlimm war es in Irland. Irland hat eine katastrophale Stillrate gehabt. Aber es wird besser! Mittlerweile hat ja sogar der Papst alle Frauen zum Stillen aufgefordert (lacht).”
Grünschnabel: Und wo wird am häufigsten gestillt?
Hemmelmayr: “In den skandinavischen Ländern. Arbeiten und Stillen hat dort eine lange Tradition und funktioniert gut. Außerdem haben die Skandinavier ein gutes soziales Netz. Vielleicht werden sie auch weniger beeinflusst von der Säuglingsnahrungsindustrie.”
Grünschnabel: Manche Frauen fühlen sich durch den Trend zum Stillen unter Druck gesetzt. Etwa wenn andere vorwurfsvoll fragen: Was du stillst nicht? Warum denn nicht? Oder wenn sie sogar von Stillberaterinnen hören: “Jede Frau kann stillen.”
Hemmelmayr: “Das ist für mich einer der gemeinsten Sätze überhaupt. Den Satz ‘Jede Frau kann Stillen’ werden sie niemals von einer kompetenten Stillberaterin hören, weil das Stillen an körperlichen, organisatorischen oder seelisch emotionalen Gründen scheitern kann. Wie zum Beispiel bei Frauen, die sexuell missbraucht wurden.
Solche Aussagen machen besonders Menschen, die zwar in diesem Bereich tätig sind, aber sehr wenig übers Stillen wissen oder oft aus der Begeisterung für die Sache ganz übersehen, dass sie übers Ziel hinausschießen. Das ist auch die Gefahr von Stillgruppen ohne erfahrene Begleitung durch geschulte Personen.
Still- und Laktationsberaterinnen sind nicht dazu da, allen Frauen das Stillen einzureden, sondern sie durch alle Phasen dieser Zeit durchzubegleiten, bis hin zum Abstillen und der Zeit danach. Meine Kollegin und ich haben manchmal sehr viele nichtstillende Mütter in unseren Gruppen. Adoptivmütter und operierte Mütter, wo das Stillen einfach nicht geht. Wir erklären auch, wie man mit Säuglingsnahrung umgeht. Diese Frauen kommen immer wieder. Sie haben ja meistens dieselben Probleme wie Mütter, die stillen.”
Grünschnabel: Wo kann man sich Hilfe und Rat holen?
Hemmelmayr: “Bei allen IBCLC-zertifizierten Still- und Laktationsberaterinnen, in der Hebammennachsorge, bei der La Leche Liga oder in von Fachkräften geleiteten Stillgruppen.
IBCLC zertifizierte Stillberaterinnen und -berater können sich an unseren Dachverband wenden. Menschen, die sich für eine IBCLC-Ausbildung interessieren informieren sich am besten über das Europäische Institut für Still- und Laktationsberaterinnen.”
Ein ausführliches TV-Interview mit Andrea Hemmelmayr in denen weitere Aspekte des Stillens bzw. der Ernährung von Säuglingen besprochen werden gibt´s hier!
Sabine Blöchl