Marianne Gugler ist von einem Dorf in Oberösterreich in die Sargfabrik, das „Dorf in der Stadt“ Wien gezogen. Über ihre Eindrücke vom Leben im Gemeinschaftswohnprojekt, das heuer seinen 25. Geburtstag feiert, erzählt sie im Grünschnabel-Interview.
Marianne Gugler wohnte bis Dezember 2013 in Zell am Pettenfirst, einem kleinen Ort im Hausruckviertel. Das Leben in der Sargfabrik eröffnet ihr ganz neue Handlungsräume, fasst die 49-Jährige Unternehmens- und Organisationsberaterin ihr Leben in dem Gemeinschaftswohnprojekt mit langer Tradition zusammen.
Wie bist du auf die Idee gekommen, in die Sargfabrik zu ziehen?
Ich brauchte eine neue Wohnung, da ich beruflich örtlich unabhängig bin fragte ich mich: Wo will ich wohnen? Eine Freundin von mir lebt in der Sargfabrik und die hatte ich schon oft besucht. In dem Masterstudium „Gemeinwesenentwicklung“, das ich gerade absolviere, beschäftige ich mich viel mit neuen Formen des Zusammenlebens und Nachhaltigkeit und so war mein Blick geschärft. Die Antwort auf meine Frage war: Da will ich wohnen.
Es ist aber doch gar nicht so einfach, in der Sargfabrik unterzukommen, es gibt kaum Fluktuation.
Ich wurde in den Verteiler aufgenommen. Als eine Wohnung frei wurde, bewarb ich mich und wurde von der Vorauswahlgruppe zu einem Hearing eingeladen. Dabei wurde dann ausgiebig die Frage erörtert, warum ich hier leben möchte und wie weit ich mich in die Gemeinschaft einbringen kann. Ich hatte mich auch schon in Zell am Pettenfirst gesellschaftspolitisch und politisch engagiert, im Bereich Resilienz, Klima und Umwelt und hatte eine Food-Coop mitbegründet.
Wie war deine Ankunft in der Sargfabrik?
Als ich ankam, haben sich Willkommenspaten um mich gekümmert, mir alles gezeigt, mir meine Rechte und Pflichten erklärt – und mir die Möglichkeit eröffnet, ein Kennenlern-Cafe zu veranstalten. Das habe ich mit zwei anderen gemacht und so gleich einmal 40 bis 50 meiner NachbarInnen kennen gelernt.
Erlebst du das Dorfleben hier anders als das auf dem Lande?
Prinzipiell war ich auch in Oberösterreich gut angedockt. Als „Zugereiste“ hat es aber Jahre gedauert, um herauszufinden: „Wer tickt hier wie ich im Ort?“ Hier ging das viel schneller. Nicht nur weil es unter den BewohnerInnen einen Grundkonsens gibt. Durch die räumliche Nähe trifft man sich viel öfter, im Laubengang oder in der Waschküche. Man kommt leicht ins Gespräch und das Gefühl von „Du gehörst ja jetzt dazu“ ist ständig präsent. Das ermöglicht eine ganz andere Geschwindigkeit des Integrierens. Man kann, muss aber nicht ständig interagieren. Es gibt keinen Zwang. Die freie Wahl, will ich jetzt kommunizieren, zu einem Treffen oder Veranstaltung gehen oder nicht, ist sehr zentral.
Wie ist deine Beziehung zu den NachbarInnen?
Ich denke, ich kenne zumindest die die meisten Gesichter meiner rund 200 NachbarInnen. Viele auch beim Namen. Mit etwa einem Dutzend bin ich besser bekannt. Ich war bei einigen Treffen dabei und arbeite gerade an einem Car-Sharing-Projekt mit zwei Nachbarinnen. Eine kinderlose Frau betreut beispielsweise die Tochter ihrer Nachbarin mit, weil es für beide passt. So etwas passiert hier einfach.
Es gibt 26 Arbeitsgruppen in der Sargfabrik. Das sprengt selbst den Rahmen eines oft sehr regen Vereinswesens in einem Dorf auf dem Lande.
Ich bin zum Beispiel in der Badegruppe aktiv und nutze gerne die Werkstatt, wo ich handwerklich arbeiten oder mir diverse Werkzeuge ausborgen kann. Oder die Transformationsgruppe finde ich auch sehr nett. Jeder kann hier Kleidungsstücke in einen Raum bringen, die er gerade nicht braucht, wie beispielsweise Kleider, Hüte, Taschen, Kindersachen und sie jemand anders zur Verfügung stellen. In der Gemeinschaftsküche kocht jeden Freitagabend jemand anderes für etwa 20 Personen. Ich kann da einfach essen gehen. Das ist immer sehr gemütlich. In einer Videothek kann man Film-DVDs einbringen und ausborgen.
Nachhaltigkeit liegt den BewohnerInnen der Sargfabrik sehr am Herzen?
Ja, das Interesse an Ressourcen-schonender und ökologischer Lebensweise ist hier sehr verbreitet. Es gibt beispielsweise eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem ökologischen Fußabdruck beschäftigt und damit, wie die Idee eines CO2-sparenden Verhaltens kommuniziert werden kann. Dieses Bewusstsein für umweltschonendes Handeln erlebe ich aber viel mehr als Möglichkeit denn als Zwang. Zwang gibt es hier allenfalls auf die Einhaltung von Regeln.
Wie äußert sich das?
Egoistisches Verhalten wird schnell einmal sanktioniert. So wird etwa großes Augenmerk auf die korrekte Nutzung von Gemeinschaftsgütern und -einrichtungen gelegt. Auch darauf, dass die Gemeinschaftsküche nach der Nutzung sauber hinterlassen wird und die Dinge, die man sich ausborgt, wieder rechtzeitig und sauber an ihren Platz zurückgelangen.
Wie sieht es mit der Gesprächs- und Streitkultur aus?
Es gibt hier eine gute Streitkultur, sagt man. Ich habe es selbst noch nicht wirklich erlebt. Aber die Gesprächskultur ist hervorragend. Sitzungen und Diskussionen werden moderiert. Auch wenn einmal emotional Argumente vorgebracht werden, lenkt die Gruppe die Aufmerksamkeit wieder auf das, worum es geht. Die Gruppe ist als Korrektiv wirksam, das Wir-Gefühl steht stark im Vordergrund. Es geht um das beste für die Gemeinschaft und das Projekt.
In Anspielung auf den Namen „Sargfabrik“, was wird hier deiner Meinung nach zu Grabe getragen?
Der Zwang von „ich-muss-alles-selber-haben“, individueller Pomp. Dafür eröffnen sich hier für mich ganz andere Handlungsräume. Ich besitze hier viel mehr Raum als anderswo, im sozialen wie auch räumlichen Sinne. Es kommt mir freier, flexibler, gemeinschaftlicher, kreativer, inspirierter vor als anderswo.
Info zur Sargfabrik:
Das größte selbstverwaltete Wohn- und Kulturprojekt Österreichs entstand auf dem Areal einer ehemaligen Sargfabrik im Westen Wiens. Zur Sargfabrik gehören heute 112 Wohneinheiten, in denen rund 200 Menschen leben. Verwaltet wird das Gemeinschaftswohnprojekt vom Verein für Integrative Lebensgestaltung. Zur Sargfabrik gehören Gemeinschaftseinrichtungen wie ein Dachgarten, ein Badehaus, ein Kulturhaus, ein Beisl, ein Montessori-Kindergarten und eine Gemeinschaftsküche. Außerdem ein Kinderspielplatz, Gemeinschaftshöfe, ein Veranstaltungssaal und ein Seminarraum.
Im Zentrum des “Dorfes in der Stadt“ steht gemeinsames Leben ohne Gruppenzwang, die Berücksichtigung von ökologischen Aspekten sowie Offenheit für individuelle Gestaltung in Single-, Familien- und Wohngemeinschaften. Die BewohnerInnen gelten weder als Mieter noch als Eigentümer, sondern als BestandsnehmerInnen. Sie hinterlegen je nach Größe der Wohnung eine finanzielle Einlage (860 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche, diese wird bei Auszug rückerstattet). Hinzu kommt eine monatliche Miete von ca. 8 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche (warm) und ein monatlicher Vereinsbeitrag. Dieser befugt zur unentgeltlichen Nutzung aller Gemeinschaftseinrichtungen.
Maria Zamut