Grünschnabel-Interview mit Dr. Manfred Hofferer

Die so genannte Trotzphase – eine Herausforderung für alle Eltern. Dr. Manfred Hofferer ist Vater von drei Kindern und pädagogischer Leiter im InGrstitut für Kommunikationspädagogik in Wien.
Im Grünschnabel-Interview fordert er Eltern dazu auf, im Miteinander mit dem Kind neue Möglichkeiten zu erarbeiten. Dafür braucht es Geduld und Einfühlungsvermögen.

weinendes Kind

Bild: S.Kobold/Fotolia.com

Grünschnabel: Kinder im “Trotzalter” scheinen oft aus scheinbar nichtigen Anlässen innerlich aus der Bahn zu geraten. Wenn sie dann Wutausbrüche zeigen oder um sich schlagen, sind sie für elterliche Beruhigungsversuche oft nicht zugänglich. Woran liegt das?

Manfred Hofferer: Die Anlässe sind nie NICHTIG! Die Kinder beginnen in dieser Zeit zu entdecken, dass sie eigene Vorstellungen von oder über etwas haben. Diese Vorstellungen sind ganz besonders wichtig (für das Kind) auch wenn diese für die Bezugspersonen “nichtig oder unwichtig” erscheinen. Zu Trotzreaktionen kommt es immer dann, wenn diese eigenen Vorstellungen in Widerspruch zu den Vorstellungen der Eltern geraten, miteinander kollidieren und Gefahr laufen, nicht umgesetzt werden zu können. Nun muss berücksichtigt und bedacht werden, dass das Kind bis zu diesem Zeitpunkt noch keine alternativen Verarbeitungs-, Darstellungs- und Handlungsstrategien entwickelt hat und daher entsprechend seiner jeweils aktuellen Möglichkeiten reagiert: schreien, weinen, schlagen, beißen, weglaufen, etc. Eine derartig emotionale Situation kann man auch nicht „beruhigen“ sondern nur das Kind im Umgang mit der Versagung oder dem Verlust und der Annahme der Situation begleiten. Erst im Laufe der Zeit (und das ist die eigentliche Erziehungsarbeit) werden im Miteinander andere Varianten und Möglichkeiten erarbeitet, langsam aufgebaut und verinnerlicht, wie derartig diskrepante Situationen bewältigt werden können, ohne dabei in tiefe Verzweiflung zu geraten.

Grünschnabel: Sie sagen, dass der Begriff “Trotzphase” eigentlich unglücklich gewählt ist, und sprechen von “Autonomiephase”. Könnten Sie das bitte genauer erläutern?

Manfred Hofferer: Wenn das ICH des Kindes erwacht und beginnt, selbst Vorstellungen von und/oder über etwas zu entwickeln, dann entstehen unweigerlich Diskrepanzen zwischen der eigenen Vorstellung und den Vorstellungen, Wünschen oder Absichten anderer. Der Begriff Autonomie bezeichnet im Kern genau den Umstand, dass die Person zunehmend in die Lage kommt, sich selbst Regeln und Gesetze zu geben und entsprechend derselben sich zu verhalten und zu handeln. In diesem Sinne ist Trotz kein einfach widerspenstiges, störrisches oder bloß eigensinniges Verhalten, sondern vielmehr der Versuch, eigene (wenn auch manchmal eigentümliche, verrückte, bizarre oder für Eltern völlig unlogische) Gedanken, Wünsche, Vorstellungen oder Absichten um- und durchzusetzen. Wer in diesem Bereich und Zusammenhang ausschließlich Anpassung an die eigenen Vorstellungen anstrebt (“Ich weiß was gut für mein Kind ist”), der wird früher oder später mit dem Umstand der fehlenden Selbstständigkeit konfrontiert sein. Gelingende Erziehung und Entwicklung ist ein feines Wechselspiel des Aufbaues von Sicherheit gebenden Rahmen und deren sukzessiven Zerschlagung, um wieder neue Rahmen herzustellen. Nur auf diese Weise kann sich Entwicklung realisieren! In diesem Sinne können Trotzphasen auch als Hinweis des Kindes auf notwendige neue Rahmenbedingungen aufgefasst und verstanden werden. 

Grünschnabel: Diese Phase bringt viele Eltern an den Rand ihrer Geduld. Wie reagiert man am besten auf die “Anfälle” der Kinder und schont dabei nach Möglichkeit auch die eigenen Nerven?

Manfred Hofferer: Die “Grenze der Geduld” wird dann sehr leicht erreicht, wenn von Seiten der Eltern wenig Zeit, fehlende Toleranz bzw. geringes Verständnis (für das im Moment vom Kind geforderte Andere) und ein hoher Anpassungsdruck auf die Kinder an die Elternvorstellungen gegeben ist. In solchen Situationen steigt der gegenseitige Druck massiv und die “Kämpfe” um eine Einigung werden entsprechend massiver. Die Lösung liegt in dem Dreischritt: Zeit nehmen, Verständnis aufbringen und für alle tragbare Lösungen aufzeigen und anbieten.

Grünschnabel: Wie können Eltern Wutausbrüche schon im Vorhinein “umschiffen”, damit es gar nicht erst zu solchen Szenen kommt? 

Manfred Hofferer: Wer das weiß und darauf eine Antwort hat, bekommt mit Sicherheit den nächsten Nobelpreis! Im Ernst: Die mehr oder weniger heftigen Entgleisungen in der Autonomiephase lassen sich nicht vermeiden. Zum Beispiel ist das Verschieben eines aktuellen Bedürfnisses auf einen späteren Zeitpunkt, also das Spiel mit dem “den Dingen Zeit geben” etwas, das sich erst langsam ausbilden muss. Das gelingt umso leichter, je vertrauensvoller, verlässlicher, wärmer, anschlussfähiger usw. das System ist, in dem dieser Entwicklungsschritt vollzogen wird. Zudem hilfreich in diesem Zusammenhang ist, dass man mit den Kindern immer wieder spielerisch daran arbeitet, dass ein gemeinsames Leben nur dann wirklich erfolgreich sein kann, wenn drei Dinge ausgewogen zusammenwirken: “Ich für mich – Ich für dich – Wir gemeinsam!” Das heißt, konkret im miteinander Umgehen immer wieder bewusst und sichtbar werden zu lassen, wann jemand etwas ganz für sich selbst macht, oder aber sich in den Dienst des anderen stellt (also von sich selbst ablässt) und schließlich wenn etwas Gemeinsames (nicht ein “Ich für mich” und der andere macht halt mit) unternommen wird. Auf diese Weise entwickelt sich sehr früh – auch bei den ganz jungen Kindern – ein gutes Gefühl und Wissen, welchem Bereich in einer aktuell-konkreten Situation in welchem Ausmaß Raum gegeben werden muss, damit das Miteinander gelingen kann. 

Grünschnabel: Die Autonomiephase ist ein wesentlicher Entwicklungsschritt. Was ist mit Kindern, die scheinbar gar keine Trotzphase haben? Holen Sie das später im Leben nach?

Manfred Hofferer: Das ist eine schwierige Frage: Mit großer Wahrscheinlichkeit (so meine Beobachtungen und Erfahrungen aus der Praxis) besteht ein ganz enger Zusammenhang mit dem Umstand, dass Kinder, die sehr früh die Möglichkeit haben – zumindest zu einem Teil – ihren eigenen Vorstellungen, Ideen, Wünschen oder Impulsen, in ihrer Art und Weise nachgehen können und dabei von den Eltern unterstützt werden – weit weniger stark dazu neigen ein ausgeprägtes Trotzverhalten auszubilden. Mit anderen Worten ausgedrückt ist die ausgebildete Toleranz gegenüber der zugestandenen und gelebten Eigenständigkeit sowie der aktiven Unterstützung derselben und dem Trotzverhalten ein wesentlicher Wirkfaktor. In diesem Fall ist der Umstand, sich widersetzen und mit aller Kraft auf seine Eigenständigkeit hinweisen zu müssen, nicht notwendigerweise gegeben und muss auch im späteren Leben nicht nachgeholt werden.

Tipp:
Weitere Informationen und Details findest du hier.

Zur Person: Dr. Manfred Hofferer – Vater von 3 Kindern – ist der pädagogische Leiter im Institut für Kommunikationspädagogik-Wien und dort als Berater und Therapeut für den Bereich “Kleinkind” zuständig. www.outdoorpaedagogik.at