Gewalt ist auch bei Rotkäppchen ein Thema - ist das Märchen wirklich für Kinder geeignet? (Foto: S.-Hofschlaeger/pixelio.de)

Gewalt ist auch bei Rotkäppchen ein Thema - ist das Märchen wirklich für Kinder geeignet? (Foto: S.-Hofschlaeger/pixelio.de)

Als die Gebrüder Grimm ihre „Kinder- und Hausmärchen“ veröffentlichten, waren sie nicht für Kinder gedacht, sondern für Erwachsene. Dementsprechend gibt es Gewalt und sexuelle Anspielungen – auch in der späteren Version, die stark überarbeitet und auf Kinder ausgelegt ist. Für Eltern stellt sich oft die Frage, wie kindgerecht die Märchen wirklich sind und was Kindern eigentlich zugemutet werden kann.


Es war einmal im italienischen Märchenschatz. Der König entdeckt Dornröschen, schlafend vor ihm liegen. Überwältigt von ihrer Schönheit und Anmut vergewaltigt er sie. Neun Monate später bekommt die Prinzessin Zwillinge. Als die beiden Kinder am Finger der schlafenden Mutter nuckeln, erwacht sie und nennt ihre Kinder „Sonne“ und „Mond“. Der König kehrt zurück, die Königin wird eifersüchtig und will die Prinzessin verbrennen lassen.  Stattdessen findet sie selbst im Feuer ihr Ende, der König heiratet die Prinzessin und sie leben glücklich bis ans Lebensende.
Diese italienische Version von Dornröschen, geschrieben von Giambattista Basile (1636), heißt „Sonne, Mond und Talia“ und entstammt der selben Zeit, in der die Gebrüder Grimm ihre Märchen sammelten. Auch wenn sie von der uns bekannten Version in ihren Details doch deutlich abweicht und Dornröschen darin „Talia“ heißt, ist die Ähnlichkeit zum dahinter liegenden Sagengut klar erkennbar.
Auch in den uns bekannten Märchen findet sich oft überraschende Brutalität. Schneewittchen rächt sich an ihrer Stiefmutter, indem sie diese auf ihrer Hochzeit in glühenden Schuhen zu Tode tanzen lässt. Hänsel und Gretel werden von ihren Eltern ausgesetzt, in dem Bewusstsein, dass sie im Wald von wilden Tieren gefressen werden. In der ursprünglichen Version von Rotkäppchen tötet der Wolf zuerst die Großmutter, portioniert dann ihr Fleisch und füllt ihr Blut in eine Weinflasche. Rotkäppchen isst unwissentlich das Mahl, bevor sie selbst vom Wolf gefressen wird.
Im 16. Jahrhundert erzählten sich Bauern in Frankreich diese Version von Rotkäppchen. Auch die Märchen, die von den Gebrüdern Grimm gesammelt wurden, waren eigentlich authentische Volksmärchen, die sich Erwachsene erzählt haben, nachdem die Kinder schlafen gegangen waren. Die erste Version dieser Märchensammlung wurde auch zum Verkaufsflop. Erst als Wilhelm Grimm die Geschichten überarbeitete, die Texte kindgerechter machte, mit Bildern versah und die wissenschaftlichen Anmerkungen seines Bruders Jacob herausstrich, wurden die „Kinder- und Hausmärchen” zum Erfolg.

 

Märchen immer wieder aktualisiert und abgeschwächt

Die Grimmsche Märchensammlung erregte ursprünglich heftige Kritik. Die Erzählungen seien nicht im Mindesten für Kinder geeignet: zu viele sexuelle Anspielungen, zu brutal, zu aufrührerisch. Auch nachfolgende Versionen wurden immer wieder überarbeitet und ganze Märchen aus den drei Bänden gestrichen. „Der Jude im Dorn“ und der „Judenstein wurden aus politischer Korrektheit entfernt, „Die Weiber zu Weinsperg“ aufgrund von erotischer Anspielungen.
Heutzutage fragen sich viele Eltern, ob die Märchen nicht noch immer zu brutal sind. Kann man Kindern zumuten, Geschichten zu hören, in denen Gleichaltrige von ihren Eltern ausgesetzt werden?
Märchenerzählerin Iljana Planke kennt genügend Kinder, die wegen Märchen jahrelang schlecht träumen oder Neurosen entwickeln. „Manche Märchen überfordern Kinder in ihrer Erfahrungswelt, sie können dann nicht mehr zwischen Geschichte und Realität unterscheiden,“ weiß sie. Ein Märchen wie Hänsel und Gretel ist ihrer Meinung nach nichts für Kinder.
Gleichzeitig wurden die Kinder- und Hausmärchen in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen und die Märchenforschung zeigt, dass Märchen grundsätzlich eine positive Botschaft vermitteln: Das Böse verliert immer und es gibt eine klare Trennung zwischen Schwarz und Weiß. So findet man eindeutig moralische Grundsätze in den Märchen. Auch sind die Märchen voll von uralten Sehnsüchten und Ideen und beschäftigen sich mit den großen Fragen des Lebens – mit Liebe, Hoffnung, Tod, Verlust und Angst, und sie zeigen Lösungen für Probleme auf.
Für Eltern bleibt dennoch eine moralische Schwierigkeit bestehen: In den Grimmschen Märchen geht fast alles Böse von Frauen aus. Stiefmütter und Königinnen sind in der Regel böse und Hexen gefährlich. Kein Wunder, denn der historische Ursprung der Märchen liegt im Mittelalter; und damit auch die Wertehaltung, die sie vermitteln.

 

Beispiel aus der Indischen Mythologie
Wieweit Märchen und Mythen die Haltung einer Gesellschaft widerspiegeln oder sie auch beeinflussen, kann schwer gesagt werden. Zum Denken regt hier allerdings ein Beispiel aus Indien an.
In der indischen Mythologie ist die Göttin Sita der Inbegriff der treuen, guten, keuschen und reinen Frau. Sie ist das Idealbild einer moralisch untadeligen, unterwürfigen und hingebungsvollen Ehefrau. Ihre „Religion“ ist ihr Ehemann. Sie wird über ihn definiert und ihre Aufgabe ist es, die weibliche Energie, die sie in sich vereint, für ihren Mann aufzuopfern und für ihn zu leiden. Die Wünsche, das Wohlergehen und der Ruf ihres Mannes bestimmen alle Handlungen und Gedanken Sitas.
Neben Sita gibt es auch noch weitere Göttinnen, die das Weibliche verkörpern, doch keine der Geschichten ist in der indischen Gesellschaft so beliebt wie die von Sita. So ist die Erniedrigung von Frauen in der indischen Kultur schon in den mythologischen Texten verwurzelt. Durch die Mythologie und die Epen der Hindu-Religion werden Frauen weiterhin klein gehalten.
Auch im konkreten Fall der Vergewaltigung und Ermordung der 23-jährigen Inderin in Neu-Delhi im Dezember 2012 wurde der Mythos von Sita als Erklärung herangezogen. Der Industrieminister der Provinz, Kailash Vijayvargiya, hatte auf das indische Nationaleops Ramayana verwiesen und kommentiert, dass Frauen wissen müssen, wie sie sich benehmen dürfen; wenn sie ihre Grenzen überschritten, müssten sie dafür „einen Preis zahlen“ – so wie Sita müsse sich jede Frau ihrer Strafe stellen, wenn sie ihre Grenze überschreite.
Später ruderte der Politiker zurück und räumte ein, dass auch Männer sich innerhalb ihrer Grenzen bewegen müssten. Von Anfang an vermittelte er jedoch klar, dass er die Schuld beim Opfer sehe.

 

Mehrheit gegen sprachliche Korrekturen in Kinderbüchern
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts You Gov sprechen sich 70 Prozent der Befragten gegen sprachliche Korrekturen an Kinderbüchern aus, nur 22 Prozent sind dafür. Klaus Willberg, Chef des Thienemann-Verlags, ist jedoch sicher: „Sprache beeinflusst das Bewusstsein und wo ein diskriminierender Begriff vermieden werden kann, halten wir es für vernünftig, ihn wegzulassen.“
Und so wurde Ottfried Preußlers „Die kleine Hexe“ in der Neuauflage überarbeitet und Sätze wie „Ich wichse euch mit dem Besen durch.“ Umgeschrieben, um für Kindern Zweideutigkeiten zu bereinigen. Insbesondere sprachliche Änderungen, bei denen der Kern der Geschichte und das Gemeinte gleich bleiben, sind sowohl für den Verlag, als auch für den Autor kein Problem. Auch die mediale Aufmerksamkeit hielt sich in Grenzen, und ein Aufschrei der Bevölkerung blieb aus. Wenn es jedoch um die Basis der Geschichte geht, so besteht bei vielen noch eine starke emotionale Bindung an die Märchen, die sie aus ihrer Kindheit noch kennen. So werden weitgehende Überarbeitungen noch lange nicht geschehen, und die Geschichte nur in kleinen Schritten an die jeweilige Zeit angepasst werden.
Eltern sollten sich jedoch darüber bewusst sein, dass die Geschichten im Ursprung nicht für Kinder gedacht waren – und selbst stark selektieren, welche Märchen für das eigene Kind passen, und ob die Werte, die das Märchen vermittelt, auch die sind, hinter denen man selbst steht.

 

Brauchen Kinder Märchen? Einen Artikel dazu findest du hier!

Manuela Hoflehner